Warum üben wir eigentlich Yoga?
“Yoga ist das Zur-Ruhe-Bringen der Bewegungen im Geist.“ Yoga Sutra 1.2
Ursprünglich war das Ziel des Yoga nicht, den Körper beweglich zu machen oder eine bessere Haltung zu entwickeln, sondern den Geist zur Ruhe zu bringen. Es ging darum, aus dem unaufhörlichen Strom der Gedanken auszusteigen und einen inneren Zustand von Klarheit, Sammlung und Stille zu erreichen – nicht als Rückzug von der Welt, sondern als Grundlage dafür, sie wirklich zu sehen.
Yoga erinnert uns daran, dass nicht alles, was wir denken, auch wahr ist – und dass unsere Wahrnehmung häufig durch die Linse unserer Gewohnheiten, Erfahrungen, Erwartungen und Ängste gefärbt ist. Durch regelmässige Praxis kultivieren wir viveka, die Unterscheidungskraft – also die Fähigkeit, Wesentliches von Unwesentlichem, das Vergängliche vom Bleibenden, das Wirkliche vom bloss Gedachten zu unterscheiden.
Auch wenn die Art und Weise, wie wir heute Yoga verstehen und praktizieren, manchmal eher an funktionelles Training erinnert, ist es mir persönlich wichtig, die tiefere Ausrichtung dieser Praxis nie aus den Augen zu verlieren. Wie also lässt sich der körperliche Zugang mit dem ursprünglichen Ziel des Yoga erklären und verbinden? Hatha Yoga – als körperlich orientierter Pfad innerhalb des Raja Yoga – ergänzt die anderen klassischen Yoga-Wege: Jnana-Yoga (Erkenntnis), Bhakti-Yoga (Hingabe), und Karma-Yoga (selbstloses Handeln). Er ist der Weg über den Körper. Durch Bewegung, Atmung und Ausrichtung wird der Geist vorbereitet – auch für weiterführende Praktiken wie Pranayama oder Meditation. So erschliesst sich uns über den Körper ein Zugang zum Geist; der Körper wird zum Tor nach innen. Durch die Yoga-Praxis entsteht ein Raum, in dem wir das Denken hinter uns lassen und mit dem in Verbindung treten können, was tiefer in uns liegt.
Gerade in einer Zeit, in der alles schneller, komplexer und dichter geworden ist, erscheint dieses ursprüngliche Ziel des Yoga relevanter und bedeutungsvoller denn je.
Unser Geist liebt das Flüchtige, das Neue, das Reizvolle – und ist dabei unaufhörlich in Bewegung. Studien zufolge denken wir rund 60.000 Gedanken pro Tag – ein grosser Teil davon wiederholt sich und kreist um Sorgen, Zweifel, Vergleiche oder Erwartungen. Nur ein kleiner Teil unserer täglichen Gedanken gilt laut Forschung als wirklich relevant oder konstruktiv – das meiste ist unbewusst, automatisch und häufig vergangenheits- oder zukunftsbezogen.
Während wir auf der Matte üben – den Körper fordern, die Muskeln kräftigen, das Gleichgewicht schulen und die Koordination verfeinern – schenkt uns Yoga gleichzeitig einen geschützten Raum, in dem wir innehalten und auf einer tieferen Ebene wieder in Verbindung treten können: mit unserem Körper, unserem Atem – und vor allem mit der Stille in uns. Es ist eine Einladung, aus dem ständigen Denken auszusteigen und wieder mehr zu spüren, zu atmen, zu sein. Und vielleicht geht es dabei noch einen Schritt weiter: In der Tiefe unseres Seins – jenseits von Gedanken, Emotionen und Rollen – gibt es etwas, das unverändert bleibt. Einen Raum der Stille, der Weite, der Klarheit. Und genau dorthin führt uns Yoga. Nicht, um uns von der Welt zu entfernen, sondern um uns in ihr zu verankern.
Danke, dass wir dich auf deinem Yoga-Weg begleiten dürfen – inmitten der ständigen und schnellen Bewegung des Lebens.